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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 31.08.2005


E-Interview mit Irmingard Schewe-Gerigk - Wen Frauen warum wählen sollten...
Ilka Fleischer

Anlässlich der vorgezogenen Neuwahlen befragten wir auch die MdB, Parlamentarische Geschäftsführerin und Sprecherin für Frauen- und Altenpolitik der Fraktion Bündnis 90 / DIE GRÜNEN.





Ilka Fleischer: Der DEUTSCHE FRAUENRAT fordert anlässlich der Neuwahlen, dass für Frauenpolitik eigenständige Strukturen erhalten bleiben und Frauenpolitik nicht unter Familienpolitik subsummiert wird. Frauen nur noch in ihrer Familienrolle zu sehen, sei diskriminierend und nicht zeitgemäß. Welche frauen- und gleichstellungspolitischen Aspekte wurden in den letzten Jahren aus Ihrer Sicht vernachlässigt?
IRMINGARD SCHEWE-GERIGK: Bündnis 90/Die Grünen legen großen Wert darauf, dass Frauenpolitik und Familienpolitik zwei getrennte Bereiche sind, wenn sie natürlich auch starke Berührungspunkte haben. Hierin unterscheiden wir uns von allen anderen Parteien, ganz besonders von der Union, die Frauenpolitik grundsätzlich unter Familienpolitik subsumiert. Emanzipative Aspekte spielen in der politischen Kultur der CDU/CSU keine Rolle. In den vergangenen Jahren waren eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und eine familienfreundliche Unternehmenspolitik wichtige Themen. Das ist gut und richtig. Aber es war enttäuschend, dass die Ministerin Renate Schmidt für Familie, Senioren, Frauen und Jugend darüber hinausgehende Anstrengungen zur beruflichen Gleichstellung von Frauen und Männern vernachlässigt hat. Bündnis 90 setzen sich für gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit, mehr Frauen in Führungspositionen in Wissenschaft und Wirtschaft und mehr Aufstiegschancen ein. Zu unserem Leidwesen hat sich in diesem Bereich zu wenig getan.

Ilka Fleischer: Frausein allein ist kein Programm, heißt es. Laut einer Forsa-Umfrage wollen jedoch 5 Prozent der Wählerinnen wegen der Kandidatur einer Frau CDU wählen. Nach einer Untersuchung der Forschungsgruppe Wahlen liegt "Schröder" dennoch bei den Frauen vorn. Worin hebt sich die Frauen- und Gleichstellungspolitik Ihrer Partei inhaltlich von der anderer Parteien am meisten ab? Welche frauen- und gleichstellungspolitischen Vorhaben stehen auf Ihrer Top-3 Liste ganz oben?
IRMINGARD SCHEWE-GERIGK: Uns zeichnet aus, dass wir explizite Frauenpolitik machen - das ist deutlich mehr als die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die Frauenfrage ist eben nicht mehr erledigt, wenn die Kinderfrage gelöst ist. Die eigenständige Existenzsicherung von Frauen ist in Deutschland heute die wichtigste und weitreichendste frauenpolitische Forderung - wir sind die einzige Partei, die nicht davon ablässt, sie immer wieder zu formulieren. Wir wollen, dass Frauen nicht länger "abgeleitete Wesen" sind - das heißt, finanziell abhängig von Ehemann oder Staat. Diesem Ziel müssen wir uns durch Veränderungen in allen Bereichen - Sozialpolitik, Wirtschaft und Gesellschaft - nähern.

Heute ist es so, dass die jungen Frauen im Durchschnitt besser qualifiziert sind als junge Männer. Im Arbeitsleben sind sie dennoch zahlreichen Benachteiligungen ausgesetzt. In der kommenden Legislaturperiode werden wir vor allem an folgenden Aspekten arbeiten: Männer und Frauen müssen für gleichwertige Arbeit endlich auch die gleichen Löhne erhalten. Bei der weiblichen Besetzung wirtschaftlicher Spitzenpositionen wollen wir nicht länger eines der traurigen europäischen Schlusslichter im Ländervergleich sein. Das Antidiskriminierungsgesetz, das derzeit von der Union im Bundesrat blockiert wird, würde den Frauen den gesetzlichen Rückhalt geben, sich gegen Ungleichbehandlung am Arbeitsplatz zu wehren. Wichtigste Durchsetzungsinstrumente sind aber ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft sowie die bevorzugte Vergabe öffentlicher Aufträge an Firmen, die sich nachweislich und nachhaltig für Gleichstellung einsetzen. Der Kanzler hat auf Druck der Wirtschaftslobby auf eine freiwillige Vereinbarung umgesattelt. Diese hat leider nicht zu positiven Ergebnissen geführt.

Eine dritte für uns sehr wichtige Forderung ist, die Abhängigkeit des Arbeitslosengeld II vom Einkommen des Partners/der Partnerin zu beenden. Auch hier werden wir wohl in kleinen Schritten vorangehen müssen. Als ersten Schritt wollen wir die Gehaltsgrenzen des Partners/der Partnerin deutlich nach oben setzen und den Frauen, die dennoch kein Arbeitslosengeld II erhalten, eine Krankenversicherung und die gleichen Fördermaßnahmen garantieren, die Arbeitslose in Anspruch nehmen können, die das Geld erhalten.

Langfristig wollen wir außerdem das Ehegattensplitting und die Steuerklasse V abschaffen, weil es der Erwerbsarbeit von Frauen entgegensteht.

Ilka Fleischer: Welche frauen- und gleichstellungspolitischen Risiken oder Rückschritte erwarten uns, wenn Ihre Partei in der kommenden Legislaturperiode nicht (mit)regieren würde?
IRMINGARD SCHEWE-GERIGK: Die Union macht es schon mit ihrem Wahlprogramm deutlich: Frauenpolitisch wird es mit ihr keine Fortschritte geben - im Wahlprogramm kommt das Wort Frauenpolitik nicht vor. Aber mit Stillstand ist es nicht getan: Unter der Union würden die Frauen erleben, wie die Errungenschaften der vergangenen Jahre für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf von der Union zunichte gemacht werden. Sie hat bereits angekündigt, die Initiative der Bundesregierung, durch die den Ländern Gelder in Milliardenhöhe zum Ausbau der Kinderbetreuung und der Ganztagsschulen zur Verfügung gestellt werden, nicht weiterzuführen. Einen weiteren Vorgeschmack auf die Frauen- und Familienpolitik unter einer Unionsregierung gibt uns das Mitglied des Kompetenzteams Paul Kirchhof: Weder ist seine steinzeitliche Vorstellung von Geschlechterrollen dazu angetan, uns an gleichstellungspolitische Fortschritte glauben zu lassen ("Die Frau macht in der Familie Karriere"), noch wäre eine Einheitssteuer, wie sie der als Finanzminister gehandelte Verfassungsrechtler vorschlägt, geschlechtergerecht. Viele öffentlich bereit gestellte Güter - wie zum Beispiel Kinderbetreuung - sind nun einmal davon abhängig, dass auch Geld in der Staatskasse ist, das für solche Dienstleistungen zur Verfügung gestellt werden kann. Auch in einer großen Koalition gäbe es wohl gleichstellungspolitischen Stillstand: Denn in der Frauenpolitik sind wir in der vergangenen Legislaturperiode leider auch des öfteren an unserer Koalitionspartnerin gescheitert. Das Veto des SPD-Kanzlers beim Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft und bei der Verknüpfung der Vergabe öffentlicher Aufträge mit Frauenförderung sind das beste Beispiel dafür.


Ilka Fleischer: Mit 68,5% lag die Wahlbeteiligung der 21- bis 24-jährigen Frauen knapp 11% unter der allgemeinen Wahlbeteiligung, und die Wahlbeteiligung der Frauen ab 70 lag deutschlandweit 9,2 Prozentpunkte unter jener gleichaltriger Männer. Was plant Ihre Partei für Frauen dieser Altersgruppen? Warum könnte sich der Gang zur Urne dieses Mal für "Jung und Alt" lohnen?
IRMINGARD SCHEWE-GERIGK: Wir Grünen machen uns stark für einen neuen Generationenvertrag, der nicht nur die sozialen Sicherungssysteme umfasst, sondern auch die aktive Teilhabe der Älteren an Wohnungs-, Verkehrs-, Bildungs- oder Sozialpolitik. Alte Menschen sind heute bis ins hohe Alter geistig und körperlich aktiv - und gleichzeitig werden sie in vielfacher Weise von unserer Gesellschaft diskriminiert. Wenn mehr als die Hälfte aller Unternehmen in Deutschland keine über 50jährigen beschäftigt, ist das ungerecht und kurzsichtig. Frauen sind davon wieder einmal stärker betroffen als Männer. Sie gelten bereits ab 40 Jahren als ältere Arbeitnehmerinnen. Wir wollen das ändern. Deshalb haben wir das Alter ins Antidiskriminierungsgesetz aufgenommen - dafür mussten wir auch mit der SPD lange ringen. Auch sind es Frauen, die die Hauptlast als beruflich und privat Pflegende und als Gepflegte im hohen Alter tragen. Altersarmut ist zwar insgesamt zurückgegangen, tritt aber immer noch bei älteren Frauen auf, die neben ihrer Erwerbsarbeit Kinder und pflegebedürftige Angehörige betreut haben. Wir setzen uns dafür ein, dass die steigende Verantwortung für die Pflege solidarisch aufgeteilt und nicht länger einseitig bei den weiblichen Familienangehörigen abgeladen wird. Mit gemeinschaftlichen Wohn- und Hilfeformen erhalten Pflegebedürftige solange wie möglich Hilfe zur Selbsthilfe.
Den jungen Frauen bieten wir vor allem, dass wir uns für ihre Eigenständigkeit und Unabhängigkeit in allen Bereichen einsetzen. Sei das nun bei einer Wahl von Studium und Beruf frei von Geschlechterklischees, bei einer Schwangerschaft, über die sie ohne äußeren Druck allein entscheiden, oder bei der eigenständigen sozialen Sicherung, unabhängig vom Ehemann.
Ein selbstbestimmtes Leben ist das, was wir für die Frauen wollen - egal ob alt oder jung. Sie sollen selbst darüber entscheiden können, wo sie im Alter mit wem leben, wie viel Pflege sie brauchen, oder wie sie ihre Zukunft gestalten wollen. Meiner Meinung nach ist das ein guter Anreiz, uns zu wählen.
Außerdem wollen wir Frauen dabei unterstützten, auch Gründungen außerhalb eher "typisch weiblicher" Branchen (haushalts- und personenbezogene Dienste) anzustreben, die ein größeres wirtschaftliches Potenzial bieten.

Ilka Fleischer: Vielen Dank, Frau Schewe-Gerigk!



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Beitrag vom 31.08.2005

AVIVA-Redaktion